1. Mai Rede Stäfa

Anfang 1886 – vor über 130 Jahren - hat die nordamerikanische Arbeiterbewegung zur Durchsetzung des Achtstundentags zum Generalstreik am 1. Mai aufgerufen. Am 1. Mai, weil schon dreissig Jahre vorher in Australien eine Massendemonstration der Arbeiter stattgefunden hatte. Seither begehen wir jedes Jahr dieses historische Ereignis.

Viele Leute haben das Gefühl, dass 1.Mai-Anlässe überholt wären. Der Beweis des Zusammenhalts würde nichts bewirken und ein Mai-Bummel -eigenverantwortlich gestaltet – wäre ein grösserer Genuss. Ist das so?

 

Wir haben diesen Frühling einige schöne Wahlerfolge gehabt und der SVP empfindliche Niederlagen beschert; letztes Jahr haben wir in der Volksabstimmung die Unternehmenssteuerreform III versenkt, das Energiegesetz angenommen und der erleichterten Einbürgerung der 3.Generation zugestimmt. Sind wir tatsächlich auf dem Weg zu einer gerechteren, umweltbewussteren Gesellschaft und kämpferische Parolen am 1.Mai sind unnötig? Als Politiker und Gewerkschafter habe ich ja Berufsoptimist zu sein, trotzdem habe ich meine Zweifel. Die NZZ, die sich in letzter Zeit zwar auch gerne an die SVP anbiedert, hat aber angesichts der Wahlresultate der letzten Wochen nicht unrecht hat mit der Aussage: «Die SVP röchelt nicht, sie holt nur tief Atem».

 

Gerade in den Landgemeinden haben wir in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich unsere Gesellschaft auch unter dem Einfluss der SVP nachhaltiger verändert hat, als wir gerne wahrhaben. Und unser Einsatz für eine solidarische Gemeinschaft wird länger dauern und unsere volles Engagement erfordern.

 

Schauen wir zurück in die siebziger Jahre – nicht aus Nostalgie – nein, weil mit heute so vieles vergleichbar ist und sich doch soviel verändert hat. Es herrschte Hochkonjunktur, Aufträge waren genug da, die Gewinne stiegen und die Zusammenarbeit mit Europa wurde intensiviert und der Austausch von Arbeit, Bildung und Forschung mit dem Ausland stark ausgebaut.

 

Das politische Klima erlaubte aber darüber zu sprechen, wer diesen Aufschwung erst ermöglicht hat und wer an den Gewinnen beteiligt werden soll – es waren die Arbeiterinnen und Angestellten, die Konsumentinnen und Wissenschafter – inklusive den Gastarbeiterinnen, den Senioren und den Familienfrauen (neben wenigen Familienmännern) – Sie alle waren beteiligt daran, dass die Wirtschaft boomte und grosse Gewinne generierte. Diese wurden zu einem grossen Teil wieder der Gesellschaft zurückgegeben: Die Sozialwerke wurden ausgebaut, der öffentliche Verkehr weiter entwickelt,  Spitäler und Schulen gebaut, in die Ausbildung investiert und die demokratischen Grundrechte erweitert.

So wurden zwischen 1970 und 1992 in zahlreichen Revisionen und Anpassungen die AHV-Leistungen verdoppelt, der Mischindex und die Betreuungsgutschriften eingeführt.

 

Beim ÖV wurde das Konzept der S-Bahn beschlossen. Die Klassengrössen in den Schulen sind von 40 auf etwa 24 Schülerinnen und Schüler gesenkt worden. Die ganze Gesellschaft profitierte vom wirtschaftlichen Fortschritt.

 

1971 wurden – nach jahrzehntelangem Kampf – auch in der Schweiz den Frauen das Frauenstimmrecht gewährt und 1981 mit dem Gleichstellungsartikel in der Verfassung und damit die Lohndiskriminierung verboten. Zu diesem Thema später mehr.

 

Das war der Aufbruch in den Siebzigern – doch dann folgte der Umbruch.

 

Eine ähnliche konjunkturelle Entwicklung wie in den siebziger Jahren hatten wir in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Aber das politische Umfeld hatte sich in der Zwischenzeit dramatisch verändert.

 

In den achtziger Jahren wurde die kleinbürgerliche SVP von einigen Millionären übernommen. Bis dahin gab es ab und zu Allianzen zwischen der SP mit der SVP – Lohnabhängige und Kleingewerbe, beide kämpften gegen die elitären Wirtschaftseliten. Unter der Führung dieser neureichen Unternehmer, die sich von der snobistischen FDP abgelehnt und gedemütigt fühlten, ist der neue politische Stil der SVP etabliert worden: Alles wird skandalisiert, die Räder sollen zurückgedreht werden. Und ja keine vorgeschlagenen Lösungen als gut befinden; Maximalforderungen stellen, die nicht mehrheitsfähig sind, damit man nicht in die Verantwortung der Umsetzung gelangt. Dabei ist der Begriff «Eigenverantwortung» zum allheilbringenden Lösungsansatz hochstilisiert worden. Eigenverantwortung bei der Gesundheit, in der Bildung, beim Wohnen, beim Umweltschutz – und vor allem beim Einkommen, dem Vermögenszuwachs, der Altersvorsorge. Seit dieser Zeit geht die Schere bei Einkommen und Vermögen immer weiter auf. Aber wer nicht bei den Gewinnern ist, ist selber schuld. Er ist nicht genügend schlau, frech, hinterhältig. Ihm oder ihr fehlt der Killerinstinkt, den es in der Wirtschaft braucht. Nicht mehr die Leistung ist entscheidend, sondern wer wen für sich möglichst günstig zum Arbeiten einspannen kann. Die Unternehmenskultur hat sich massiv verändert. Genau diese Haltung führte dann, provoziert durch die Finanzwirtschaft, zur grössten Wirtschaftskrise in der Schweiz seit 1928, die mindestens 100’000 Industriearbeitsplätze zum Verschwinden brachte.

 

Das Shareholderdenken hat Einzug gehalten. Bis heute gilt es, möglichst schnell viel Gewinn aus dem Unternehmen zu ziehen. Die Gewinne fliessen in die Taschen von Wenigen. Viele Manager wirtschaften nicht mit eigenem Geld sondern spekulieren mit dem Geld der Aktionäre. Für sie ist das Unternehmen eine Maschine zur Gewinnmaximierung – für sich und die Erwartungen der Aktionäre. Gleichzeitig hat sich auch die Arbeitswelt verändert. Restrukturierung ist das Modewort. Der Lohndruck steigt, befristete Arbeitsverhältnisse werden eingeführt, stress- und krankheitsbedingte Ausfälle nehmen zu und «unrentable» Arbeitskräfte werden frühpensioniert oder in die IV geschickt. Und in der globalisierten Welt finden sich billigere Arbeitskräfte. Wer Gewinn macht ist der Tüchtige, wer die Stelle verliert der Versager. Der Staat muss schliesslich auffangen, was dem Gewinnstreben abträglich ist. Im letzten Jahr konnte ein maximales Lohnverhältnis von 1 : 165 zwischen dem höchsten und tiefsten Gehalt in der gleichen Firma festgestellt werden.

 

Es ist auch unter dem Begriff der Eigenverantwortung, unter dem die bürgerlichen die Entsolidarisierung vorantreiben. Ist der Virus einmal gesetzt, werden Steuergeschenke an die hohen Einkommen mehrheitsfähig, und die Reduktion der Steuern auf Einkommen, Vermögen, Kapitalgewinnen, Grundsteuern und Erbschaft. Überall profitieren von der Begünstigung diejenigen, die schon haben und gemäss Verfassung auch ihren Beitrag den wirtschaftlichen Verhältnis entsprechend an die Aufgaben der Gesellschaft leisten sollten. Und mit sinkenden Steuereinnahmen lässt sich dann der fortschreitende Leistungsabbau im Service Public rechtfertigen.

 

Noch schlimmer als die Politik der leeren Kassen empfinde ich die Wirkung, die sie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auslöst. Die Angst am gemeinsam erarbeitenden Wohlstand weniger partizipieren zu können, lässt sich einfach in Panikmache steigern. Und besonders einfach geht es, wenn man die Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufhetzen kann:

 

Den Mittelstand gegen tiefe Einkommen, tiefe Einkommen gegen Stellenlose, Stellenlose gegen ausländische Arbeitskräfte, Junge gegen Alte, Gesunde gegen Kranke – und, und, und.

 

Ob es unsere Schwäche war oder ihre Stärke gewesen ist, die diese Entsolidarisierungswelle ausgelöst hat? Wohl beides. Aber ihre Strategie mit der Hetze gegen jegliche Art von Minderheiten ist aufgegangen.

 

Wer gegen unten tritt, lässt die oben Ruhe. In den letzten 20 Jahren wurden zwar regelmässig die exorbitanten Managersaläre, fahrlässig herbeigeführte Konkurse, Abfindungen für Verkäufe ins Ausland oder Fusionen angeprangert. Was hat es gebracht? Die Aufschreie werden leiser, man hat sich daran gewöhnt und die Menschen resignieren.

 

Auch in den siebziger Jahren ist endlich, endlich auch die Gleichstellungs-frage mehrheitsfähig geworden. Aber nur als Frage, nicht als Antwort.

 

Wie schon bei der Mutterschaftsversicherung, die zwar in der Verfassung jahrzehntlang verankert war bis sie 2005 endlich eingeführt wurde, wird die Umsetzung der Lohngleichheit verzögert, torpediert, verhindert.

 

Trotz Gleichstellungsartikel verdienen Frauen heute immer noch durchschnittlich 20% weniger als Männer. Mindestens zwei Drittel davon sind nicht durch messbare Faktoren wie Ausbildung, Branche oder berufliche Stellung erklärbar. 20 % weniger Lohn über 40 Erwerbsjahre gerechnet können gut und gerne eine halbe Million weniger Lohn bedeuten. D.h. weniger Spielraum für eigenes wirtschaftliches Wirken und ganz entscheidend bedeutet dies jahrelang tiefere Renten im Ruhestand – in meinem Bespiel über 500.- im Monat. Aber nur schon eine minimale Kontrolle der Diskriminierung hat im rechtsbürgerlich, patriarchalischen Parlament wenig Chancen. «37 Jahre Freiwilligkeit sind genug», sagt Simonetta Sommaruga. Ohne Erfolg! Ihr butterweicher Vorschlag für ein Monitoring wurde schliesslich vom Bundesrat akzeptiert, doch die ständerätliche Kommission schwächte die Vorlage noch einmal ab. So sollten Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden – das ist gerade mal 1% aller Unternehmen – alle vier Jahre einen Bericht zur Lohngleichstellung abliefern. Dieser zahnlose Vorschlag war dem Ständerat immer noch zu emanzipatorisch – er wurde an die Kommission zurückgeschickt.

 

37 Jahre verfassungsmässiger Auftrag und die Frauen werden immer noch ohne wirkliche Sanktionsmöglichkeit diskriminiert. Lohndiskriminierung müsste ein Offizialdelikt sein. Zu gerne lässt man aufbegehrende Frauen mangels wirkungsvollem Kündigungsschutz ins offene Messer laufen. Alle wissen, nicht nur die Frauen sind  davon betroffen. Die Wirtschaft kann mit Frauenlöhnen nach wie vor auf die Löhne drücken und die Differenz zahlt die öffentliche Hand. So bei der Sozialhilfe für Haushalte, die zwar Vollzeit arbeiten und doch nicht durchkommen und dann bei den Ergänzungsleistungen zur AHV, weil die Rente zu tief ist.

 

Sind wir jetzt einfach dem rechtsbürgerlichen Machtspiel ausgeliefert? Das was die Parlamente in Kanton und Bund die letzten Jahre an Sozialabbau geliefert haben, hat doch Spuren hinterlassen. Und es verändert das Bewusstsein in der Bevölkerung doch nach und nach.

Bei der USR III hat die Bevölkerung mit dem Nein ein deutliches Zeichen gesetzt – Steuerparadies für die Unternehmen und hohen Einkommen, Sozialabbau, höhere Steuern, Krankenkassenprämien und Mieten für die niedrigen Einkommen wird nicht mehr akzeptiert. Mal sehen wie die neue Vorlage dann aussehen wird. Ob die rechtsbürgerliche Mehrheit etwas aus dem Verdikt der Stimmbevölkerung gelernt hat?

 

Und die Gemeindewahlen diesen Frühling zeigen, dass sich Beurteilung von der Leistung der Parteien geändert hat. Wer wie die SVP seit Jahren nur alles schlecht redet, sich nie aber für Lösungen ihrer herbeigeredeten Probleme engagiert, verliert die Glaubwürdigkeit endgültig. Und die Mitteparteien, die geglaubt haben, sie müssten die Themen der SVP in soft-Manier übernehmen, machen sich doppelt überflüssig: Die Sujets sind verblasst und wer sich dem trotzdem noch annimmt, wählt das Original.

In den letzten Jahren sind wir tatsächlich vor allem in Abwehrkämpfen gegen Abbau der Sozialwerke, gegen Aufweichung des Umweltschutzes, gegen Leistungsabbau und gegen die Infrage-Stellung der verfassungsmässigen Rechte verwickelt worden.  Wir haben uns kaum mehr getraut, mit Vorstössen unseren Vorstellungen zu sozialer Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Da stehen wir nun hoffentlich an einer Zeitenwende – und viele Anzeichen sprechen dafür.

 

Neben den Wahlergebnissen und den Abstimmungsresultaten in den letzten Monaten ist auch eindrücklich, wie viele Parteimitglieder sich haben mobilisieren liessen, wie viele Parteibeitritte zu verzeichnen sind.

 

Auch wenn wir den einen oder anderen schönen Erfolg erreichen konnten, der Grundtenor und die Glorifizierung der Eigenverantwortung ist noch nicht überwunden. Zu tief ist sie über die Dauerbeschallung ins Mark breiter Bevölkerungsteile eingedrungen. Und die rechtsbürgerliche Mehrheit versucht jetzt, noch möglichst viele Gesetzesänderungen in ihrem Sinn ins trockene zu bringen. Darum stehen Entscheidungen an, die wieder den gesellschaftlichen Zusammenhalt betreffen.

Beim Referendum zu den Sozialdetektiven geht es nur wenig um die paar armen Teufel, die bei den Sozialversicherungen ein paar Franken erschleichen. Es geht vor allem darum, ob die Versicherungen selber Spitzel auf alle Versicherten ansetzen darf – auf Dich, mich, alle. Ob Spionage zur Unternehmenskultur der Krankenkassen, Unfallversicherungen, AHV und IV wird und ob wir zulassen, dass Misstrauen unsere gesellschaftliche Grundhaltung wird. Damit wird auch das Versicherungsprinzip in Frage gestellt – das Risiko breiter zu verteilen, solidarisch einzahlen und bei Bedarf beanspruchen. Und wieder sind wir bei der viel beschworenen Eigenverantwortung, denn SVP und FDP reden schon seit Jahren die AHV/IV schlecht – logisch, die Solidarität mindert ihre Profitaussichten.

 

Dass sowohl bei der Durchsetzungsinitiative wie jetzt beim Referendum gegen die Sozialdetektive neben den linken Parteien auch Bewegungen aus der Zivilgesellschaft mobilisiert werden, macht Hoffnung. Jetzt muss es gelingen, dass sich einige davon uns anschliessen. So werden neue Mehrheiten möglich und wir können doch optimistischer in die Zukunft blicken als noch vor ein paar Jahren. Gemeinsam schaffen wir das – für alle statt für wenige.